- Ort
- 44787 Bochum, Humboldtstraße 42
- Ursprüngliche Nutzung
- Pfarrkirche der Katholischen Propsteigemeinde St. Peter und Paul des Bistums Essen
- Neue Nutzung
- Konzerthaus für die Bochumer Symphoniker und Saal für die städtische Musikschule, „Anne-liese Brost Musikforum Ruhr“ der Stadt Bochum. Das Gebäude der ehemaligen St. Marienkirche dient als Foyer und Veranstaltungsort für beide Säle.
- Gebäude
- 1867–1872 erbaut, Architekt: Gerhard August Fischer (1833–1906), Wuppertal-Barmen | 1876–1882 altkatholisch, seit 1889 römisch-katholische Pfarrkirche | 1943/44 zerstört | bis 1953 wiederaufgebaut, Architekt: Dr. Kurt Hubert Vieth (1916–1993), Herne | 2002 profaniert | 2009 Wettbewerb Konzerthaus Bochum, nicht realisiert | 2012 Wettbewerb Musikzentrum Bochum, 1. Preis und Realisierung: Bez + Kock Architekten, Stuttgart | Oktober 2016 eröffnet
- Denkmalschutz
- Das Kirchengebäude steht nicht unter Denkmalschutz.
Ortslage | Städtebauliche Situation
Die ehemalige Marienkirche liegt in der Nähe des Stadtzentrums und des südlichen Cityrings in einem gründerzeitlichen Stadterweiterungsgebiet. Das Umfeld ist geprägt durch Verwaltungs-, Geschäfts- und Wohnnutzungen in Bauten, die überwiegend aus der Nachkriegszeit stammen. Östlich schließt das „Bermudadreieck“ an, ein lebendiges Viertel mit Gastronomie, Freizeiteinrichtungen und kleinteiligem Einzelhandel. Ein großes Grundstück südlich der Kirche wurde lange Zeit als Parkplatz genutzt.
Die Kirche stellt mit ihrem 70 Meter hohen Turm und einem Kirchendach mit 26 Metern Firsthöhe in der umliegenden, bis zu fünfgeschossigen Bebauung die städtebauliche Dominante der südlichen Stadterweiterung Bochums dar. Ihre Lage an der Viktoriastraße, der Verbindung zwischen Schauspielhaus und Willy-Brandt-Platz im Zentrum, macht sie zu einem entscheidenden Bestandteil der städtebaulichen Gestaltung des Stadtteils. So führen westlich und östlich Straßen axial auf das Gebäude zu. Der Turm ist aus mehreren Richtungen in den Achsen von Hauptverkehrsstraßen sichtbar und auch von den dicht am Kirchenbau vorbeiführenden Eisenbahntrassen aus zu sehen.
Gebäude | Bauform
Die Kirche wurde von dem für das Ruhrgebiet und das Bergische Land prägenden Kirchenarchitekten Gerhard August Fischer als neugotische dreischiffige Backstein-Hallenkirche mit polygonalem Chor entworfen. Das Hauptportal lag im Westturm, weitere Portale befanden sich auf der Süd- und Nordseite. Die neugotische Innengestaltung wurde im Krieg weitgehend zerstört. Der Wiederaufbau vereinfachte die neugotische Kirche mit einer flachen Holzbalkendecke und heller Ausmalung. Die gesamte Innenausstattung inklusive der künstlerisch gestalteten Chorraumfenster wurde mit der Profanierung 2002 ausgeräumt und ausgebaut.
Historische Bedeutung | Soziales Umfeld
Als bestimmendes Element der südlichen Innenstadterweiterung ist das Kirchengebäude ein historisches und aktuelles Zeichen in einem für die Identität der Stadt wichtigen Stadtteil. Mit der Lage am urbanen Viertel „Bermudadreieck“ ist das Gebäude in ein aktives Umfeld eingebunden, das mit der Nachnutzung als kultureller Veranstaltungsort von hohem Rang und überregionaler Ausstrahlung interessante Verknüpfungen ermöglicht.
Kirchliche Nutzung | Einbindung in die Bürgergemeinde
Seit die Kirche nicht mehr sakral genutzt wurde, litt das Gebäude unter Leerstand und Verfall, blieb allerdings in der städtischen Diskussion sehr präsent. Trotz des Verlustes einer tragfähigen Umgebung für die Kirchengemeinde arbeitete seit 2002 ein Förderverein für den Erhalt der Kirche. Bürgergemeinde und Bürgerschaft im Umfeld zeigten ein starkes Interesse an dem Gebäude und einer adäquaten Nachnutzung. Die Entscheidung der Stadt Bochum, das Gebäude trotz Abrissbegehren der Kirchenverwaltung und ohne Denkmalschutz aus stadtgestalterischen Gründen erhalten zu wollen, entsprach dieser bürgerschaftlichen Haltung.
Prozess | Beteiligte
Die Auseinandersetzung um die Zukunft des Kirchengebäudes zwischen den kirchlichen Beteiligten und der Stadt Bochum war phasenweise konfliktbeladen. So stellte die Kirchengemeinde bereits 2001 beim Bistum Essen eine Anfrage zum Abriss, der zunächst abgelehnt wurde. Ab 2005 gab es Gespräche zwischen der Kommune und der neu gebildeten Propsteigemeinde, die nun einen Abbruchantrag bei der Stadt stellte. Diese reagierte mit einer Erhaltungssatzung und ließ Gutachten zur Gebäudesubstanz und zu Nutzungsvarianten erstellen. Hierauf folgten rechtliche Auseinandersetzungen um Abriss, Erhaltungssatzung und Neubauvorhaben auf dem Grundstück.
2006 wurde zwischen Kirche und Stadt ein Aufschub (Moratorium) vereinbart und das Gebäude für das „Modellvorhaben Kirchenumnutzungen“ des Landes NRW nominiert. Unter Federführung und Vorgaben der Stadtplanung wurde in Abstimmung mit der Kirchengemeinde eine Machbarkeitsstudie beauftragt. Das Nutzungsprofil wurde eingebettet in das städtische Konzept „ViktoriaQuartierBochum“ zur Entwicklung von Kulturnutzungen der Stadt Bochum im Rahmen des Projekts RUHR.2010-Kulturhauptstadt Europas. In diesem Zusammenhang sollte auch das Freigelände südlich der Marienkirche für eine Bochumer Symphonie genutzt werden. Im Oktober 2008 entschied der Rat der Stadt Bochum, die Marienkirche zu einer „Veranstaltungsstätte mit musikalischem Profil“ umzubauen. Den ersten Preis im entsprechenden Wettbewerb erhielt Mitte 2009 ein Entwurf von Max Dudler Architekten, Berlin, der einen Kammermusiksaal als Haus-in-Haus-Konstruktion im Mittelschiff des Langhausesvorsah. Allerdings untersagte die Bezirksregierung Arnsberg 2010 der Stadt, die erforderlichen kommunalen Eigenmittel zu der in Aussicht gestellten Landesförderung für das Projekt aufzubringen, da sich die Stadt im Haushaltssicherungskonzept befand.
Das Konzept eines reinen Konzerthauses war damit nicht mehr realisierbar und wurde geändert zugunsten der Idee eines Musikzentrums mit Integration weiterer musikalischer Nutzungen wie einer Musikschule. Der Rat der Stadt Bochum beschloss 2011, trotz weiterer Kritik an der Finanzierung des Vorhabens und eines nun von anderen Teilen der Stadtgesellschaft angestrengten Bürgerbegehrens, mit Landes- und EU-Fördermitteln sowie einem Baukostenbeitrag einer privaten Stiftung von über 14 Millionen Euro, das Musikzentrum zu bauen. Den hierfür 2012 neu ausgeschriebenen Wettbewerb gewann das Büro Bez + Kock, Stuttgart, dessen Entwurf anschließend umgesetzt wurde.
Nutzungskonzept | Neunutzung
Im Rahmen des Gebäudekonzepts für das Musikzentrum wurde die Marienkirche als ein Baustein in ein Ensemble von Neubauten auf den angrenzenden Grundstücken integriert. Als städtebauliche Dominante und stadträumlich für den Ort identitätsstiftendes Bauwerk übernimmt sie die Erschließungs- und Foyerfunktion für die beiden angeschlossenen Säle. Der Kirchenraum wird zusätzlich zu den Sälen auch für eigenständige Veranstaltungen genutzt.
Für die neue Nutzung als Foyer des Musikzentrums wurden auf der Nord- und Südseite des Chors neue Zugänge geschaffen. Der Gebäudekomplex wird so von der Viktoriastraße aus über zwei Vorplätze durch den einige Stufen höher liegenden ehemaligen Altarraum erschlossen. Die ursprünglichen Seitenportale wurden neben weiteren neuen Zugängen in die nördlich und südlich an das alte Langhaus andockenden Erschließungsbereiche der beiden Veranstaltungssäle eingebunden, der ursprüngliche Hauptzugang unter dem Turm wurde geschlossen. Die ursprüngliche Richtungsachse der Kirche ist somit umgedreht. Der gesamte Kircheninnenraum wurde mit einem neuen, weißen Fußboden versehen und weiß gestrichen, nur die oberen und unteren Abschlüsse der acht Säulen (sogenannte Basen und Kapitelle) sind farbig abgesetzt. Einige wenige Elemente der Kirchengestaltung des Wiederaufbaus blieben erhalten, wie zwei Wandnischen der östlichen Langhausstirnwände neben dem Chor. Erwähnenswert ist zudem, dass eine der Turmglocken im Innenraum in der Gebäudeachse unterhalb des Turmes und oberhalb einer neuen Empore aufgehängt wurde, die nun als Pausenglocke für Veranstaltungen fungiert.
Besonderheiten | Erfahrungen
Interessant an diesem Projekt ist die starke Verbundenheit der Bürgergemeinde mit einem Gebäude, das von fachlicher Seite nicht für denkmalwürdig erachtet wurde. Offensichtlich empfinden Teile der Bürgerschaft die Marienkirche als historisch und stadtgestalterisch wichtiges Identifikationsgebäude, unabhängig von der fachlichen Beurteilung der architektonischen Qualitäten des Ursprungsbauwerks, seines Wiederaufbaus und losgelöst von einer sakralen Nutzung. Neben dem bürgerschaftlichen Engagement sind die Anstrengungen der Stadt Bochum zum Erhalt eines nicht denkmalgeschützten Gebäudes aufgrundseiner stadträumlichen Qualitäten bemerkenswert. Trotz der Konflikte mit den kirchlichen Eigentümern und einer schwierigen Finanzierung hat die Stadt über Jahre und mehrere Ratsperioden das Ziel einer Kulturnutzung weiterverfolgt. Als Ergebnis ist ein Gebäude entstanden, das in seiner Vielschichtigkeit und historischen Tiefe einem bloßen Neubau an Identitätskraft deutlich überlegen ist und positive überregionale Wirkung für die Stadt entfaltet. Dieses Projekt verdeutlicht so auch den baukulturellen Wert von Kirchengebäuden als städtebauliche Marken und historische Identitätsgebäude über die sakrale Nutzung hinaus.
Jörg Beste, synergon Köln